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Europa als Turmbau zu Babel: Sprachverwirrung bereits bei Baubeginn
05.08.2014 22:21

Die EU gleicht der Geschichte vom Turmbau zu Babel - allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Europa beginnt den Bau der Union nicht mit EINER Sprache, sondern betreibt ihn mittlerweile mit 24 Amtssprachen. Ist das demokratiefähig?

Aufhänger für diesen Blogbeitrag ist der Facebook-Kommentar von Lena G. anlässlich der Kritik daran, dass die EU-Verhandlungen über das Freihandelsabkommen (TTIP) mit den USA im Geheimen passieren:

  • "Nicht, dass jemand sagt, er wurde nicht INFORMIERT. Jedes TTIP-Gesprächsprotokoll eines jeden Verhandlungstages wird auf der Home-Page der EU veröffentlich! Für jeden einsehbar. Auch für dich! Aber das Interesse vieler Bürger ist wohl nur geheuchelt. Homepage der Europäischen Kommission: http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ttip/"

Ich ermutige jeden Leser, diesen Link einmal aufzurufen, sich die Inhalte anzuschauen und sich dann offen und ehrlich selbst zu fragen: Reicht das Schulenglisch aus, um innerhalb eines vertretbaren Zeitrahmens zu verstehen, was dort veröffentlicht ist? Ich für meinen Teil sage es frank und frei heraus: ICH verstehe die Inhalte spontan nur rudimentär! Und selbst, wenn ich sie besser verstünde, hätte ich weder Zeit noch Energie, Sachverhalte in einer Fremdsprache zu erschließen, die bereits in meiner Muttersprache konzentriertes Arbeiten und Recherche bedeuten würden. Ich soll ja laut Regierung auch noch einer Arbeitstätigkeit nachgehen, mich weiterbilden, Gesundheits- und Altersvorsorge betreiben und mich sozial einbringen...

Entsprechend säuerlich antwortete ich Lena

Meine Reaktion auf den Kommentar von Lena G.:

  • "Die Englischkenntnisse vieler Bürger sind wahrscheinlich zu sehr "Schulstandard", als dass sie für solche Dokumente geeignet wären! WAS für eine Arroganz, hieraus Interesseheuchelei abzuleiten! Und genau DAS ist EIN Punkt, an dem die EU undemokratisch ist: Mangels einheitlicher Sprache ist es der EU möglich, mit einem Minimum an Rezeption unter den Bürgern der MItgliedstaaten ihre Dinge durchzudrücken. Es KANN aufgrund der Sprachbarriere kein wirklicher Diskurs stattfinden und das liegt weniger an dem dummen, uninteressierten Bürgern, es liegt an der Arroganz des Systems!"

Die EU hat natürlich einen Übersetzungsdienst, allerdings leistet dieser seine Arbeit nur in folgendem engen Rahmen:

  • "Natürlich wird keineswegs alles in alle Amtssprachen übersetzt. Von der Kommission werden nur Rechtsvorschriften und Strategiepapiere von besonderer öffentlicher Bedeutung in allen 24 Amtssprachen veröffentlicht. Diese Dokumente machen etwa ein Drittel unserer Arbeit aus."

EU-Übersetzungsdienst reicht für demokratische Ansprüche nicht aus

Entsprechend finden sich Dokumente, die zwischen den Gremien kursieren oder die - wie bei TTIP der Fall - Verhandlungsprotokolle mit us-amerikanischen Lobbys bedeuten, meist auf englisch vor. Wenn also nur bestenfalls die Resultate in die meisten Sprachen der EU übersetzt werden, so verstehen die meisten Bürger von EU-Mitgliedstaaten auf dem Weg dahin nur "Bahnhof". Vorverhandlungen sind aufgrund der Sprachbarriere in keinerlei demokratischen Diskurs eingebettet, nur, wenn Medien ein Schlaglicht auf das eine oder andere Thema werfen, ist die Chance auf eine öffentliche Debatte gegeben. Aber demokratische Prozesse sollten nun beim besten Willen nicht von Zufall und Gutdünken der Medien abhängig sein.

EU versteckt sich nicht nur hinter der Sprache, sondern auch hinter verschlossenen Türen

Dies alleine zeigt die immense demokratische Schieflage der EU-Organisation. Es ist systemimmanent, dass ein Großteil der Menschen in den Mitgliedstaaten die EU schlichtweg und im Wortsinn "nicht versteht". Erschwerend kommt hinzu, dass bspw. im Fall der Verhandlung über das Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) alles im Geheimen abläuft und noch nichteinmal die EU-Parlamentarier wissen, WAS eigentlich gerade verhandelt wird. Neben der Sprachbarriere wird hier zusätzlich noch Geheimhaltung praktiziert - dies sollte jeden Bürger eines EU-Mitgliedstaates nervös zucken lassen.

Weiteres Problem: Kommunikationshürden zwischen den EU-Einwohnern untereinander

Gegenwärtig wird einmal mehr ein weiteres Sprachproblem deutlich: Während die EU überaus professionell und strukturiert zumindest die Resultate ihrer Tätigkeit in 24 Sprachen übersetzen lassen kann, müssen Bürgerinitiativen, wie die neueste gegen das TTIP-Abkommen, auf Basis ehrenamtlichen Engagements im Falle von Volksbegehren

  1. bestimmte Mindestzahlen von Unterschrifen erreichen, die
  2. in den 27 EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich hoch sind und
  3. deren Erreichung maßgeblich vom Marketing dieser Ehrenamtlichen abhängt, das wiederum
  4. nur dann effektiv funktionieren kann, wenn es die Sprache der jeweiligen EU-Bürger spricht

Ich habe damals Unterschriften gegen die Wasserprivatisierung gesammelt und erstellte für diverse Demos Flyer, die ich verteilte. Konzeption und Formulierung geschahen natürlich auf Deutsch unter Kenntnis des Geschmacks der potenziellen Empfänger. Hätte ich das in 23 weitere Sprachen übersetzen und für 23 Länder mit unterschiedlichen ästhetischen Empfindungen gestalten müssen, so wäre mir das so gut wie unmöglich gewesen.

Kurz: Bürgerinitiativen - und das sind demokratische Einrichtungen! - sind gegenüber den professionellen EU-Strukturen im krassen Nachteil, was die Chance auf nennenswertes Gehör bei den EU-Verantwortlichen fast auf Null minimiert. Dies kümmert jedoch niemanden.

Egal, was die Bürger anstellen - am Ende entscheidet die EU über deren Köpfe hinweg

Was die übrigens erfolgreiche europaweite Unterschriftensammlung gegen die Wasserprivatisierung angeht, wurden alle Quoren erreicht und die Unterschriften beim EU-Kommissar Barnier abgegeben - allerdings kommt die Wasserprivatisierung nun via TTIP durch die Hintertür zu uns, insgeheim und in einer Fremdsprache. Ich persönlich habe als Bürger den Eindruck, dass ich mich mit meinen Demonstrationsteilnahmen und Flyer-Aktionen zwar ehrenwert verhalten habe, aber am Ende wie Don Quichote dastehe...

Sprache und Staatsverfassung

In unserem Grundgesetz sagt der 20. Artikel, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Das Volk besteht aus Staatsbürgern, die ungeschriebenerweise eine gemeinsame Sprache teilen. Dies ist unerwähnt, weil es dem Begriff des "Volkes" innewohnt und stillschweigend vorausgesetzt wird. Aber darüber hinaus ist es auch aus der Tatsache ableitbar, dass die Volksgewalt durch Wahlen und Abstimmungen sowie durch Organe der Legislative, der Exekutive und der Judikative ausgeübt wird: Eine Wahl kann nur getroffen werden, wenn die Wahlalternativen sprachlich und dfolglich auch intellektuell verstanden werden. In der Judikative schreibt u.a. § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes fest, dass die Gerichtssprache Deutsch zu sein habe. Wenn die Verwaltung, die Exekutive, heute anfinge, ihre Tätigkeiten auf lateinisch durchzuführen, wären ihre Verwaltungsakte nicht mehr von der Allgemeinheit überprüfbar und wenn die Gesetzgebung auf Litauisch geschähe, wäre das Parlament nicht mehr verständlich für die Allgemeinheit. Die vom Volk eingesetzte Obrigkeit, die Regierung nebst Rechtsprechung, Rechtslegung und Verwaltung funktionieren ausschließlich via Sprache, eine Sprache am Bürger vorbei wäre das Ende der Demokratie.

Gewaltenteilung auf Basis gemeinschaftlicher Sprache - bei EU in keiner Weise gegeben

Demokratische Willensbildung, gesetzeskonformes Verhalten und adressengerechte Verwaltung sind also logischerweise und notwendigerweise nur dann möglich, wenn diese drei Sphären der Gewaltenteilung in einer Sprache interagieren, die die Träger der Gewalt - die Bürger - verstehen.

Die EU stellt diese banale Voraussetzung, die derart selbstverständlich ist, dass sie nichteinmal explizit im deutschen Grundgesetz erwähnt wird, auf den Kopf. Sie strebt die "Vereinigten Staaten von Europa" nach amerikanischem Vorbild an, übersieht dabei jedoch, dass die USA einen einheitlichen Sprachraum darstellen. Demgegenüber sieht die EU sich mehr als 24 Volkssprachen ausgesetzt - wieviel weniger ist angesichts dessen eine vivide Demokratie im Rahmen vereinigter Staaten von Europa vorstellbar? Helmut Schmidt ging auf diesen Aspekt einmal anlässlich einer Phönixrunde ein und wagte die Prognose, dass die Vereinigten Staaten von Europa aus diesem Grunde wahrscheinlich auch eine Illusion blieben

Vom einfachen Bürger distanzierte Politsprache bevorzugt privilegierte Bevölkerungsteile

Europa täte auch besser daran, seine Bemühungen um die Konstruktion eines Superstaates abzulegen; denn wenn die EU es auch schaffte, ein einheitliches Territorium zu errichten und seine Einwohner fortan mit einiger juristischer Korrektheit Bürger nennen würde, so ginge die Gewalt nicht von den Bürgern aus, weil die Sprachhoheit nur bei einem verhältnismäßig kleinen Anteil der Bevölkerung läge, deren Einfluss auf die Administration der EU besonders stark wäre; die Administration selbst würde sich am Ende nur aus dem genannten Bevölkerungsteil zusammensetzen. Die Gewalt ginge folglich von den privilegierten Bürokraten der EU aus und träfe die Bürger - das wäre eine Umkehrung des demokratischen Gedankens und im Grunde eine Aristokratie bzw. noch schlimmer, eine Tyrannis: Eine Minderheit Privilegierter herrschte über eine Masse von "begriffsstutzigen" Bürgern.

Manchmal zählt die Größe eben doch...

Ein Letztes: Eine gemeinsame Sprache alleine reicht für das Funktionieren von Demokratie nicht aus; das Ausgesprochene muss den Adressaten auch auf geeigneten Wegen erreichen können. Demokratie lässt sich nicht in jeder beliebigen Größenordnung umsetzen, ab einer gewissen Größe ist demokratische Kontrolle nicht mehr möglich. Dies wissen auch Verfassungsrechtler in Deutschland, die diesbezüglich von der "Legitimationskette" sprechen: Nach jeder Bundestagswahl mit veränderter Regierung muss ein neuer Kanzler gewählt werden, der wiederum die Ministerien umbesetzt etc. - diese Kette soll sicherstellen, dass die Wahl des Bürgers seinen Niederschlag im Gewaltenkomplex des Staates findet. Je mehr Gremien allerdings hintereinandergeschaltet werden, desto länger wird diese Legitimationskette, sodass sich am Ende mit Recht fragen lässt, ob am Ende überhaupt noch eine Legitimation ihren Niederschlag finde. Einen Eindruck über die Verflechtung zwischen deutscher Gewaltenteilung und der EU gewinnt man HIER auf dem kleinen Schaubild: Es fällt schwer, nach Betrachtung desselben noch davon auszugehen, dass die Wählerstimme auch nur den Hauch eines Effektes auf die Regierenden der EU haben könnte...

Absender, Übertragungsweg, Empfänger und gemeingültiger Sprachcode auf Grundlage einer praktikablen Organisationsgröße bilden also u.a. die Grundlage einer Demokratie. Wer jedoch eine Demokratie zu bauen versucht, deren Strukturen keine praktikable demokratische Legitimation mehr garantieren kann und deren Teilnehmer keine gemeinsame Sprache sprechen, bereitet den Weg für eine Tyrannis. Und wer erkennt, dass die Verantwortlichen in der EU gegenwärtig bereits nicht nur im Schatten der Sprachbarriere ihren Willen durchsetzen, sondern überdies besonders brisante Themen in geheimen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen abhandeln, der sollte an dieser Stelle bemerken, dass die Befürchtung einer Tyrannis nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen ist...

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